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Das bunte Leben im Spektrum

Heute teile ich einen Beitrag von Different Planet:

 

durch Zufall (falls es sowas gibt) habe ich die Seite entdeckt und mich schnell wiedergefunden, weil es A für alle ist, die irgendwie anders sind, ob sie (Asperger-) Autisten, hochbegabt, hypersensibel oder geistig behindert sind, AD(H)S, eine Lese-Rechtschreibschwäche, noch was anderes oder alles auf einmal haben oder sind und B weil ich offen bin für Menschen die Autismus mit einer Brise Faszination und Neugier betrachten und vor allem wo Platz ist für das gesamte Gefühls Spektrum und vor allem für die Freude...


Schnell war beschlossene Sache das wir uns gegenseitig verlinken.


In Kategorien wie „Asperger-Alltag“, „Der kleine Bruder“, „Mein Sohn erzählt“, „Unterstützungsleistungen“, „Mehr Anders-Sein“ findet ihr persönliche Erfahrungsberichte, die Möglichkeit zum Austausch, und vielleicht sogar ein bisschen Hilfestellung. Auf Instagram findet Ihr Different Planet unter life_on_a_different_planet und auch auf Facebook hat Different Planet ein Account. 


Nachfolgend findet ihr einen Beitrag aus "Mein Sohn erzählt".

 

 

„Wenn wir alle zusammen lachen, das finde ich am Schönsten!“

Photo by Rose Dudley from Pexels

 

 

Es gibt ja dieses Vorurteil, dass Menschen im Autismusspektrum Emotionen weniger oder schlechter wahrnehmen als „normale“. Das betrifft angeblich sowohl die eigenen Emotionen, als auch die der Anderen. „Das ist Quatsch, Mama“, sagt mein Großer. „Bei mir ist das nicht so.“

 

Und spätestens seitdem ich das Buch „Der Junge, der Zuviel fühlte“ entdeckt, gelesen und zu einem meiner Lieblingsbücher auserkoren habe, weiß ich, dass es auch eine gegensätzliche Theorie gibt, nämlich die, dass Menschen im Autismusspektrum gewissermaßen „zu viel“ fühlen und sich vor dem „zu Viel“ schützen, in dem sie sich den Emotionen entziehen. Oder es zumindest versuchen. Vielleicht ist es auch bei jedem anders, und es lässt sich – wie so oft – keine allgemeingültige Aussage treffen?
 

Bei meinem Großen fällt mir zum Beispiel auf, dass er sehr emotional reagiert, wenn ich angespannt bin. Und nicht nur das – es ist auch so, dass er meine Anspannung quasi schon von Weitem „riecht„. Innerhalb von Sekunden entzündet sich dann jedes Mal ein Streit, weil er mit mindestens der gleichen Anspannung reagiert, die ich schon mitbringe. (Ist immer sehr praktisch, wenn es morgens schnell gehen muss und alle unter Zeitdruck stehen…) Mir fällt aber auch auf, dass er auf die Anspannung meines Mannes in der gleichen Situation deutlich gelassener reagiert. Wenn die morgens zusammen losgehen und Papa schon am nervlichen Abgrund hangelt, macht der Große immer noch auf „alles easy Papa, komm mal runter!“. Führt also nur meine Anspannung bei ihm zu negativen Emotionen?
 

„Deine Anspannung ist so explosiv und spitz, Mama. Sie kann richtig hoch springen und schneiden. Papas Anspannung ist eher wie ein vor sich hinbrodelnder Lavavulkan, der niemals über 2 Meter hinaus spritzen würde. Sie ist genauso echt, aber nicht so ernst wie deine Anspannung, Mama.“

 

Oh. Hört sich an als wäre ich ziemlich unerträglich, wenn ich angespannt bin. Oder wirkt das nur auf ihn so stark?? „Deine Präsenz ist dann stärker als bei jedem anderen Menschen, den ich kenne. Und viel stärker als die, die du sonst hast. Das finde ich besonders anstrengend.“

Mh. Ergreift er deswegen immer sofort die Flucht, wenn ich mit festem Schritt die Treppe zu seinem Zimmer hochkomme? Allerdings reagiert er genauso stark, wenn ich nicht seinetwegen angestrengt bin, sondern sein Bruder mich in den Wahnsinn treibt oder ich irgendwas Belastendes aus dem Büro mit nach Hause bringe. Aber gut, meine Anspannung ist ja auch „spitz“ und kann „hoch springen und schneiden“…

 „Wie ist es denn bei anderen Menschen?“, frage ich. Denn vielleicht ist es ja so, dass Asperger zwar die Emotionen ihrer Nächsten stark spüren, aber nicht die von „haushaltsfremden“ Personen? „Wenn ich in meiner Klasse sitze und jemand ist angespannt, dann merke ich das glaub ich schon. Mal stresst es mich, und mal nicht.“ Ok, das finde ich jetzt nicht weiter ungewöhnlich, das geht mir auch so. „Woran liegt es deiner Meinung nach denn, ob es dich stresst?“, frage ich ihn. „Es kommt auf die Konstellation an. Wo sitze oder stehe ich in Bezug zur angespannten Person? Und welche Autorität hat er oder sie? Bei einer ungünstigen Konstellation und hoher Autorität stresst es mich ziemlich. Aber es gibt nicht so viele, die über eine hohe Autorität verfügen, nur wenige der Lehrer. Schüler gar nicht. Ich versuche dann, den physischen Abstand zu vergrößern, dann muss ich die Anspannung nicht mehr riechen..“ (Sag ich ja: er ergreift die Flucht!)

 „Hast du denn eine Lieblingsemotion?“ ist meine nächste Frage. „Ja! Die Mischung aus Belustigung, Glück und Freude. Wenn wir zum Beispiel alle zusammen beim Essen sitzen und jemand sagt was Lustiges und alle müssen lachen, das finde ich am schönsten! Aber die intensivste Emotion für mich ist panische Angst. Die kann mich richtig betäuben.“ „Hattest Du denn schon mal so richtig panische Angst?“ „ja, neulich erst. Ich bin nachts wach geworden und habe meinen Arm nicht mehr gespürt und konnte ihn auch nicht mehr bewegen. Da hatte ich richtig Panik. Und vor Hunden hab ich sehr große Angst. Ich spüre ihre Freude und ihre Aggression. Aber ihre Instinkte und Handlungen, die kann ich nicht verstehen oder vorhersehen. Deswegen habe ich Angst vor ihnen. Bei Menschen kann ich glaub ich gut vorhersehen, was sie als nächstes tun werden, und das ist mir auch wichtig.“

 

Ich weiß ja nun nicht, wie es bei anderen Menschen – Autisten oder nicht – ist, aber mein Großer nimmt Emotionen aus meiner Sicht sehr intensiv wahr. Oder kann er sie einfach sehr gut verbalisieren? Unser Gespräch verläuft jedenfalls so, als würde er täglich mit irgendjemand über seine Emotionen reden. Macht man ja eigentlich sonst nicht so. Aber vielleicht…sein Teilhabehelfer, ja, das könnte sein. Bestimmt sprechen die häufiger über Gefühle. Das wäre ja großartig! Aber der ist ja auch großartig.

 Ich frage ihn, ob er sich an den Moment seiner stärksten Emotionen erinnern kann. „Ja“, sagt er, „die Nacht bevor mein Bruder geboren wurde. Du hast bei mir im Bett geschlafen, und es war eine Mischung aus starker Trauer und sehr, sehr großer Vorfreude. Das war richtig, richtig stark.“ (Anm. der Mama: in meinem Bauch scheint es höchst gemütlich zu sein! Die Jungs mussten jeweils am Ende der 42. Woche eingeleitet werden, weil sie nicht rauswollten. Deswegen war der Zeitpunkt der Geburt einigermaßen klar. Und mein Großer war auch schon fast sieben Jahre alt, als sein Bruder zur Welt kam. Da kann man sich schon ziemlich viel dazu denken, was sich verändern wird. In der hier erwähnten Nacht hat er viele Stunden geweint.)

 

In dieser Woche gab es im Casa Different Planet leider Anlass zu Traurigkeit. Mein Großer sagt: „Wir haben doch über Emotionen gesprochen. Jetzt gerade fühle ich die Trauer, die im Haus hängt wie einen drückenden Stein auf mir. Alles ist voller Traurigkeit, sogar das Licht ist dunkler.“ Sogar das Licht ist dunkler – das ist ein schönes Bild. Ich empfinde es so nicht, aber die Beschreibung gefällt mir sehr.

 

Ob ihm noch mehr zu Emotionen einfällt, frage ich ihn. „Ja, doch. Es gibt noch etwas, das sich bei mir sehr unangenehm anfühlt: Die Kombination aus brodelnder Frustration und einem schwachen Charakter.“

 Äh – was ist denn jetzt ein schwacher Charakter für ihn? Und wenn es schwachen Charakter gibt, dann muss es ja auch starken Charakter geben. Nach meiner Erfahrung ist das eigentlich eher ein verzweifelter Kategorisierungsversuch von Eltern: „Starke Charaktere“ sind immer ihre bockigen, verzogenen Kinder, die anderen eins auf die Mütze geben, und vermeintlich zu stark und klug für diese Welt sind, während „schwache Charaktere“ die Kinder der anderen sind, die, die vom „starken Charakter“ eins auf den Hut bekommen haben. Aber von einem 12jährigen hab ich die Einordnung noch nicht so gehört. Da muss ich noch mal nachhaken, auch wenn wir das eigentliche Thema damit verlassen.

 “Starke Charaktere“, erklärt er mir „haben eine starke Präsenz und eine natürliche Autorität. Sie sind selbstbewußt, ohne überheblich zu sein. Schwache Charaktere können Emotionen nicht durch eine Hülle schützen. Die fressen sich selber auf. Starke Charaktere können ihre Emotionen gut regulieren. Schwache nicht. Und ihre vergeblichen Versuche, zum Beispiel Frust einzudämmen führen zu nichts und machen alles noch schlimmer.“ Tja, Na gut. Ich will jetzt eigentlich gar nicht wissen, in welche Kategorie ich gehöre. Aber er sagt mir unaufgefordert was dazu: „Du, Mama, bist so ein starker Charakter, aber man merkt es oft nicht richtig. Du vertrittst deine Meinung in größeren Gruppen oft nicht , weil dir offenbar die gute Stimmung wichtiger ist als dich einfach mal richtig durchzusetzen. Das ärgert mich richtig! Und Papa ist auch oft so.“ Na. Herzlichen Dank. Und obwohl ich glaube, die Antwort zu kennen, frage ich ihn, ob er sich selbst für einen starken oder einen schwachen Charakter seiner Kategorien hält. Aber er wäre nicht das Kind, das er ist, wenn seine Antwort nicht doch unerwartet wäre: „Ich bin auf dem Weg, ein starker Charakter werden zu können. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass ich in dem Punkt schneller unterwegs bin als meine Klassenkameraden. Deswegen schwebe ich da irgendwie so ein bisschen frei.“ Ja, das kann sein. Der Kontakt zu Gleichaltrigen ist bei ihm ja nicht sehr ausgeprägt, oder auch gar nicht vorhanden, und das ist nach allgemeiner Erkenntnis ja auch ein Merkmal von Asperger-Autismus.

 Aber ich wäre auch nicht die Mutter, die ich bin, wenn ich nicht darüber nachdenken würde, was meine Moral dieses Gesprächs ist. Für mich ist sie die Erkenntnis, dass ich öfter am Tisch mit allen zusammen lachen will. Und dass ich überrascht bin, zu welcher Wahrnehmung und Reflexion man mit 12 Jahren in der Lage ist. Und dass ich mit meinen Kindern im Gespräch bleiben möchte, weil man ziemlich viel Neues über sie erfahren kann. Und über mich selbst auch: zum Beispiel, dass ich eine „springende, schneidende und spitze Anspannung“ habe. Und dass mein Harmoniebedürfnis offenbar auffällt. Die Tatsache an sich ist mir bewusst und frei gewählt. Ein harmonischer Abend ist mir lieber als einer, an dem ich recht behalten habe. Aber ich finde richtig gut, dass mein 12jähriger Sohn dieses Verhalten in Frage stellt. Für mich klingt das nach einem gesunden Start in den Abnabelungsprozeß!

 

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